ange galt Kreativität als kaum erforschbar, unter anderem weil Methoden ihrer Messung und Quantifizierung fehlten. Erst in den vergangenen Jahren begannen Wissenschaftler, die neurowissenschaftliche und psychologische Grundlage der Kreativität besser zu verstehen.
Zahlreiche Kreativitätsworkshops erschöpfen sich bis heute darin, ihren Teilnehmern mehr Mut zum Querdenken einzureden. Oder sie bekommen den Ratschlag, viel zu lachen, denn Humor und Lockerheit mache nachweislich kreativ. Beides greift zu kurz. Durchaus ist Mut zum Umsetzen von Ideen gegen mögliche Widerstände wichtig. Genauso kann das Gefühl des Wohlbefindens freies Denken fördern. Aber beides allein führt nicht zu guten Ideen. Denn Kreativität ist vornehmlich das Ergebnis eines denkoperativen Stils. Ideen entwickeln sich dann besonders gut, wenn Sie Ihrem Gehirn förderliche Bedingungen für assoziatives Denken und ein gesundes Maß der Reizverarbeitung ermöglichen. Dazu gehören drei wichtige Kerndisziplinen:
1. Gehen Sie fremd
Kreativität beinhaltet die Fähigkeit ungewöhnlicher und vielfältiger geistiger Einfälle.Hiermit ist sowohl die Originalität eines Gedankens als auch die Vielfalt an Assoziationen gemeint. Daher sind inspirierende Eindrücke enorm wichtig. Andersartige Umgebungen, fremde Orte oder ungewöhnliche Situationen mit Menschen sind wie „frische Luft“ für unser Gehirn. Entscheidend ist hierbei jedoch nicht, ob die Situation objektiv gesehen besonders verrückt oder exotisch ist, sondern wie sehr sie sich vom normalen Alltag unterscheidet, das heißt wie fremd sie ist. Je größer das Delta zwischen neu/ unbekannt und alt/bekannt, desto irritierter reagiert unser Gehirn. Es kommt zu einer sogenannten „Denkschemaverletzung“. Die Fremdartigkeit der wahrgenommenen Situation zwingt unser Gehirn zur Berücksichtigung, Speicherung und Bewertung der neuen Eindrücke. Das Neue ist wie Sand im Getriebe, eine Art „Störung“, die zu neuen Verknüpfungen führt und damit zu frischen Ideen: So bewirkte bei einer Gruppe von Probanden ein einstündiges Mittagessen in einem ungewöhnlich ausgestatteten Restaurant (das Interieur war dem Märchen „Alice im Wunderland“nachempfunden) zu pfiffigeren Lösungen für eine Reihe von Aufgaben, die den Probanden danach gestellt wurden. Die fremdartige Atmosphäre in der Mittagspause zuvor hatte das Gehirn der Probanden assoziativ gelockert und erleichterte auf diese Weise den Einfallsreichtum.
TIPP: Brechen Sie immer wieder aus Ihrem Alltag aus. Schenken Sie sich jeden Tag eine neue Inspiration. Mikroerfahrungen reichen völlig aus: Besuchen Sie eine ungewöhnliche Ausstellung, hören Sie unkonventionelle Musik, probieren Sie ungewohnte Speisen, unterhalten Sie sich mit Menschen, denen Sie normalerweise nie begegnen. Seien Sie neugierig. Bleiben sie aufmerksam für die Welt um Sie herum und nehmen Sie sie achtsam wahr. Notieren Sie abends Ihre Eindrücke, um sie nachhaltiger zu speichern. Nehmen Sie jeden Tag eine neue Erfahrung oder einen neuen Gedanken mit in den Schlaf. Den Rest erledigt Ihr Gehirn.
2. Lassen Sie sickern
Auch wenn wir es ungern wahrhaben wollen – unsere geistige Verarbeitungskapazität hat eine kritische Grenze. Daher muss unser Gehirn im Hintergrund ständig aufräumen: Es filtert, ordnet und verpackt die zuvor aufgenommenen Informationen. Das kann es für gewöhnlich dann besonders gut, wenn wir geistig wenig neue Reize von außen aufnehmen, wir innerlich und äußerlich zur Ruhe kommen. Das ist sowohl beim Nachtschlaf der Fall, aber auch untertags, wenn wir monotone Umgebungen aufsuchen und in diese eintauchen, wie Waldspaziergänge oder das Liegen in einer Hängematte. Wir kommen dann ins Schweifen und Tagträumen. Gedanken kommen und gehen, sie werden bewertet, verknüpft und ggf. gelöscht. Unser Gehirn probiert aus und spielt Szenarien durch. Neue Informationen sickern nach und nach tiefer ins Gehirn und werden mit vorhandenem Wissen verbunden. So entstehen Assoziationen. Das Ergebnis dieser Aufräumarbeiten ist nicht selten ein plötzlicher Einfall oder eine verstaubte Erinnerung. Es ist wie beim Entrümpeln des Dachspeichers: Auf einmal finden wir etwas, ganz spontan und unvorhergesehen.
Für kreatives Sickern sind – neben ausreichendem Schlaf – auch untertags Phasen der Ruhe besonders gut investierte Zeit. Leider verbringen wir einen Großteil unserer geistigen Pausen heute eher mit dem permanenten Blick auf unsere Displays. Sobald Sie Ihre Aufmerksamkeit auf medialen Konsum richten, werden sofort sämtliche Aufräumarbeiten eingestellt. Der Blick auf das Smartphone unterbricht das gedankliche Schweifen. Sicherlich tat sie sich leicht, weil es noch kein Facebook gab, aber eine große und kreative Schrifstellerin sagte einmal: „Und dann braucht man ja noch jeden Tag etwas Zeit, um einfach nur vor sich hin zu schauen.“ (Astrid Lindgren)
TIPP: Gönnen Sie sich kurze Phasen am Tag, in denen Sie keine Pläne schmieden, Probleme wälzen oder Zahlen durchrechnen. Träumen Sie stattdessen einfach ein paar Minuten vor sich hin. Vermeiden Sie in dieser Zeit Katzenvideos, auch wenn es schwerfällt. Halten Sie kurze Momente der Stille um Sie herum aus. Bleiben Sie im wahrsten Sinne des Wortes seelenruhig. Nach dem Lesen dieses Artikels könnten Sie bspw. für ein paar Minuten aus dem Fenster schauen das Gelesene sickern lassen. Geben Sie Ihrem Gehirn die Chance die Eindrücke durchzuspielen. Ihr Gehirn liebt es aufzuräumen und belohnt Sie vielleicht mit einem interessanten Einfall.
3. Transpirieren Sie
Kreatives Denken beinhaltet nicht zuletzt die Bereitschaft problemsensitiv zu denken. Hierunter versteht man die Fähigkeit, Hindernisse auf dem Weg zur Umsetzung einer Idee zu erkennen und Lösungen für mögliche Probleme zu finden. Dieser Elaboriertheit kreativen Denkens wird heute viel zu wenig Aufmerksamkeit gewidmet. Denn Denken generiert keine schwarzen Zahlen. Es gilt als unbeliebt im Controling. Die Rationalisierung zeigt sich dann darin, dass Unternehmen ihre Mitarbeiter für 60 Minuten zwar in Thinking Tanks einsperren und ausgiebig brainstormen lassen, aber ihnen kaum Zeit und Raum geben, die Eindrücke in Ruhe zu verarbeiten und detailgenau zu durchdenken. Dadurch können im Ansatz vielversprechende Ideen auf der Strecke bleiben.
Eine Inspiration alleine bringt gar nichts, wenn sie der erste Windstoß umwirft. Daher ist es unverzichtbar Ideen auch konkret zu durchdenken. Auf diese Weise erkennt man mögliche Hürden, für die man dann ebenso konkrete Lösungen braucht. Das ist anstrengend, schafft aber den Nährboden, in dem eine Idee wachsen und gedeihen kann. Geistesblitze und Detaildenken sind wie zwei Seiten der gleichen Medaille. Auch hier fällt mir ein wunderbares Bonmot ein von Thomas Alva Edison, der einst sagte: „Kreativität ist nur 1 Prozent Inspiration, aber 99 Prozent Transpiration!“
TIPP: Berichten Sie jemandem von Ihrer Idee. Wer seine Gedanken in Worte kleidet, spielt sie nämlich sorgfältiger durch. Entsteht bei Ihnen und beim Zuhörer ein realistisches Bild? Welche Hindernisse fallen plötzlich auf? Wie könnte man sie aus dem Weg räumen? Ergänzen Sie unbedingt eine zusätzliche Perspektive. Bitten Sie Ihren Gesprächspartner um seine Meinung. Auch ein skeptischer, aber wohlwollender Einwurf kann im Frühstadium einer Idee äußerst hilfreich sein. Entwickeln Sie Ihre Idee von einer diffusen Ahnung zu einem konkret vorstellbaren Bild. Jedes Detail ist wie Flüssigdünger für Ihr Ideenwachstum.
Fazit
Kreativität ist weniger ein Talent, was man hat oder nicht. Kreatives Denken ist vielmehr zu einem großen Teil selbstregulativ. Es ist von der Art und Weise abhängig, wie wir denken und wie wir mit Informationen und deren Verarbeitung umgehen. Heute sind wir uns in der Wissenschaft einigdarüber, dass Kreativität insgesamt deutlich besser beeinflussbar ist als die meisten Aspekte der akademischen Intelligenz. Wenn das mal nicht motivierend ist. Erlauben Sie mir eine Schlussbemerkung, die ein wenig über den Rand des Tellers blickt: In einer Welt, die vor gewaltigen politischen, ökologischen und gesellschaftlichen Herausforderungen steht, wird einer der wertvollsten Rohstoffe in Zukunft die menschliche Kreativität sein. Besinnen wir uns daher immer darauf, was unser Gehirn braucht, um einfallsreich zu sein. Wenn wir unser Gehirn richtig einsetzen, schenkt es uns Flügel.
Priv. Doz. Dr. habil. Volker Busch Neurowissenschaft und Psychologie für Beruf und Alltag
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