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ibt es Gemeinsamkeiten zwischen Wahlentscheidungen und Reiseentscheidungen? Gibt es - meint Prof. Dr. Felix Kolbeck, Dekan der Fakultät für Tourismus bei der Hochschule für Angewandte Wissenschaften in München. Bei Wahlentscheidungen schicken die Bürger Politiker für die Dauer einer Legislaturperiode "auf Reisen" in die Parlamente. Und auch dort gibt es mach' Stammgast und auch viele neue Gesichter - wie auch in der Gastronomie und Hotellerie.
In den Wahlkabinen weisen wir unseren Politikern Verantwortung zu, primär für die Gestaltung unseres Alltags. Mit unseren Reiseentscheidungen wollen wir genau diesem Alltag entfliehen. Deswegen hören und lesen wir viel vom Wettstreit der Interessen zwischen Touristen und Einheimischen. Wir sind aber beides, besonders in den wohlhabenderen Staaten und Regionen. Nur eben zu unterschiedlichen Zeitpunkten im Jahr.
Die Rolle der Politik soll allen Menschen dienen. Politiker werden in regionalen Wahlkreisen von der örtlichen Bevölkerung gewählt. Je höher die Tourismusintensität (Verhältnis Anzahl Touristen zu Einwohnern) im Wahlkreis, umso höher sind die Bedeutung des Tourismus als Wirtschaftsfaktor auf der einen Seite und wahrgenommenen Belastungen durch den Tourismus auf der anderen Seite derselben Medaille. Damit ist der Tourismus ein ungeheuer spannendes, aber auch herausforderndes Feld für die Politik.
Mit zunehmender Reisedistanz bewirkt der An- und Abreiseverkehr den größten Teil der klimaschädlichen Emissionen, vor allem bei Flugreisen. Daher muss die Politik die Entwicklung von stadtnah gelegenen oder zumindest ohne Flug erreichbaren Freizeit- und Urlaubsmöglichkeiten stärker in der Fokus nehmen.
Was heißt das für die regionale Politik? Die Nähe viel konkreter thematisieren, nicht nur werblich-vage mit Authentizität, Bürgernähe und Heimatgefühlen. Sondern mit nachhaltigen Verkehrskonzepten und der Förderung klimaneutraler Betriebe und Konzepte. Nicht zuletzt müssen - machen wir uns das nichts vor - Kapazitäten für "Urlaub in der Nähe" neu geschaffen und beziehungsweise oder energisch modernisiert werden. Aber bitte pragmatisch! Nicht regulierungs-, sondern chancengetrieben und mit Feingefühl. Nicht zuletzt finden viele Reisen in fernen Ländern statt, weil dort die Märkte deutlich weniger reguliert sind. In Bayern gibt es, wie in ganz Deutschland, noch zahlreiche Regionen, die für eine sozial- und klimagerechten Tourismusausbau große Potenziale besitzen. Die Voraussetzungen für den Sommertourismus in Mitteleuropa sind gut, da viele klassische Urlaubsziele im Mittelmeerraum infolge des Klimawandels zu heiß werden.
Hier muss die Politik stärker überzeugen. Viele Menschen wollen weniger "mitgenommen" werden, sondern selbst aktiv den Kurs ihrer Region und ihrer Heimat steuern, weil sie den politischen Gremien und langwierigen Prozessen weniger zutrauen.
Politische sowie wirtschaftliche Stabilität und Weitsicht sind Eckpfeiler einer jeden nachhaltigen Entwicklung. Extrempole, Ausgrenzung und Engstirnigkeit behindern sie. Das gilt auch für den Tourismus als Thema der Politik und als Wirtschaftszweig.
Das bedeutet: Tourismuspolitik in den Destinationen sollte immer eine mittelstandsfördernde Politik sein. Hotellerie, Gastronomie, Seilbahnen und andere Leistungsträger zählen meist zu den Klein- und Mittelunternehmen (KMU). Sie sehen sich allerdings in Vertrieb, Digitalisierung und Anbindung der Marktmacht der großen Tech-Unternehmen und manchem Verkehrsträger ausgeliefert. Touristischer Mittelstand muss in Fläche weiter gefördert werden, auch durch Gründungs- und Nachfolgeinitiativen.
Gleichzeitig darf Politik die Alltags-, Arbeits- und Freizeitinteressen von Stadt und Land nicht gegeneinander ausspielen, sondern muss für Ausgleich und Annäherung sorgen. Nicht nur Staus in den Wochenendzielen der "Städte" nerven, sondern genauso die werktäglichen Staus der "Einpendler" in den Städten. Viele Medien polarisieren hier aus Eigeninteresse - Politik und Tourismuswirtschaft müssen verbinden.
Nach vorne schauen und die Dinge nachhaltig gestalten! Diese Sicht und Verantwortung haben unter anderem Bergführer und Reiseleitungen bei jeder einzelnen Tour. Sie sollten auch die politisch Handelnden im Tourismus antreiben. Nicht zuletzt steht touristische Expertise den leitenden politischen Ämtern, den "Reiseleitungen der Politik", nicht nur gut zu Gesicht. Vielmehr sorgt sie auch für angemessene, breite Sicht auf die Vielfalt der Tourismuswirtschaft.
Wir sind nicht allein. Tourismus hat in den letzten Jahrzehnten Viele und Vieles bewegt in Bayern. Aber andernorts auch! Und das ist gut so. Lernen wir voneinander, und gestalten wir Zukunft gemeinsam.