err Antoniewicz, woher nehmen Sie die Motivation für Ihre täglichen Rollen als Unternehmer, Chef und Visionär.
Alles was ich tue, mache ich aus Leidenschaft und Neugier. Dabei hinterfrage ich tagtäglich unsere Routinen und Abläufe. In Bezug auf das Kochen bin ich ein Verfechter einer sehr modernen Küche – auf der einen Seite. Auf der anderen Seite bin ich aber auch ein traditionell ausgebildeter Koch. Ich liebe es, beide Komponenten zusammenzubringen und mein Wissen zu teilen. Ich mag es, mich auszutauschen und mich auch mit anderen Charakteren zu reiben. Und auch die Arbeit mit vielen anderen Berufsgruppen wie Erzeugern, Farmern, Bauern, aber auch mit Förstern, Architekten oder Designern bereitet mir unglaublich viel Spaß. Letztendlich treibt mich meine Arbeit auch an, um vielleicht mal ein neues Berufsbild für Köche oder für die Gastronomie zu schaffen.
Welche grundlegenden kulinarischen Unterschiede sehen Sie zwischen Ihrer Heimatregion, dem Ruhrgebiet, und dem Süden der Republik?
Ich werde immer noch komisch angesehen, wenn ich sage, dass ich aus Dortmund komme, denn man verbindet die Stadt nicht zwangsläufig mit einer kulinarischen Hochburg. Man denkt an Fußball, Bier und Stahl. Aber das hat sich gewandelt – mittlerweile haben wir in Dortmund vier Sterne-Restaurants. Was wir im Ruhrgebiet allerdings nicht haben, ist ein guter Mittagstisch, wie man es im Süden gewohnt ist. Man geht natürlich auch Mittagessen, aber diese Wirtshauskultur, wie man sie unter anderem in Bayern kennt, fehlt. Auch das klassischesonntägliche Familienessen in einem schönen Lokal ist im Süden der Republik ganz anders verankert.
Was macht eine ausgezeichnete Küche in Ihren Augen für den Gast zu einem Erlebnis?
Der Schlüssel ist die Zufriedenheit der Gäste in vielen Belangen. Man muss eine gesunde Mischung aus gutem Essen und guten Getränken in petto haben. Auch eine gewisse Balance zwischen Entertainment und Service sollte erkenntlich sein. Ich bin ein großer Verfechter von Brot in Gastronomie. Deine Gastfreundschaft, deine Großzügigkeit, deine Wärme als Gastronom kannst Du allein mit dem Anreichen von Brot unterstreichen. Schließlich ist das gemeinsame Brotbrechen tief in unserer Kultur verankert. Und auch andere Kleinigkeiten wie das richtige Weinglas oder ein gut in der Hand liegendes Besteck sind Ausdruck eines ganzheitlichen Erlebnisses. Und: Wenn das alles dem Gast nicht einmal bewusst auffällt, dann hat der Gastwirt alles richtig gemacht.
Sie haben Ihre eigene Laborküche, in welcher Sie die neusten Kreationen und Kombinationen ausprobieren – das sogenannte Flavour Pairing. Auf der anderen Seite setzen Sie stark auf regionale Produkte. Warum steht das für Sie nicht im Widerspruch?
In den letzten 20 Jahren hat sich technisch in der Küche ein regelrechter Quantensprung vollzogen. Dabei stehen die Technologie auf der einen und eine traditionelle Küche auf der anderen Seite für mich keineswegs im Widerspruch zueinander. Aber auch Tradition ändert sich – und sie darf sich auch verändern. Es gibt nichts Schöneres als mit Tradition hin und wieder zu brechen, um sie neu zu erfinden. Das „Flavour Pairing“ ist wie ein Malkasten für die Gastronomie: Heute nehme ich Rot, Blau und Grün und guck mal, ob das Violett auch noch dazu funktioniert. Dasselbe kann man mit Geschmack machen. In meiner Laborküche entwickeln wir kreativ und ergebnisoffen – ich glaube auch, dass wir hier noch nicht am Ende der Fahnenstange angelangt sind. In Anbetracht des Klimawandels müssen wir zukünftig verstärkt darüber nachdenken, welche Kulinarik wir mithilfe regionaler Produkte erschließen können. Ich vermute, dass wir es uns in Zukunft schlicht nicht mehr erlauben können, die Dinge von A nach B zu transportieren und besonders viel Fleisch und Fisch zu konsumieren. Wenn wir heute über den sprichwörtlichen Sonntagsbraten reden, sprechen wir von Fleisch mit Gemüse und Kartoffeln. Wenn meine Großmutter früher vom Sonntagsbraten sprach, gab es „Kartoffeln, Gemüse und Braten“ – da müssen wie meiner Meinung nach wieder hin.
Können Sie uns ein Beispiel für ein regionales Produkt nennen, das in Ihren Augen großes Potenzial hat?
Mein liebstes Lebensmittel ist Raps. Er ist unglaublich robust und vielfältig nutzbar. Wenn er noch klein abgeschnitten wird, wächst er wieder nach. In einer Höhe von etwa 50 Zentimetern hoch ist, kann er wie Spargel geschält und gegessen werden. Die Spitzen schmecken gedünstet wie Brokkoli. Das Saatgut hingegen kann man zu Öl pressen und beispielsweise für Soßen nutzen. Derartige Pflanzen, die auf vielfältige Weise in der modernen Küche genutzt werden können, gibt es etliche.
Gibt es – gerne auch exotisches – Flavour Pair, das jeder einmal probiert haben sollte?
Ja, unbedingt. Ich bin mit Nutella und Senf aufgewachsen. (lacht).
… das kam jetzt etwas unerwartet…
Das klingt ja auch total schräg. Aber wie viele Leute kennt man, die Marmelade auf ihrem Käsebrot essen? Käse und Frucht kennt man. Nuss und Schärfe kennt man. Warum dann nicht das? Man muss einfach mal Neues ausprobieren. Allerdings muss der Senf ein Scharfer sein und wirklich auch nur hauchzart obendrauf gesetzt (lacht). Die Lehre des Flavour Pairing besagt, dass du bekannte Aromastoffe miteinander vergleichst und dann so ein Highlight herausarbeitest. Das ist die Theorie. Ich als Koch sage, dass ich die Verhältnismäßigkeit zwischen den einzelnen Komponenten schaffen muss. Die Komposition ist entscheidend, damit das jeweilige Paar funktioniert.
Die Pandemie hat in der Gastronomie einiges durcheinandergeworfen…
Ich bewundere das Durchhaltevermögen und wie schnell sich Gastronomen tatsächlich auch auf die neuen Situationen eingestellt haben. Ich hätte mir gewünscht, dass der Mut zur Verändern schon vor Jahren dagewesen wäre. Dass man es wagt, etwas durchzusetzen und hinter seinen Forderungen zu stehen. Mit den steigenden Preisen ergeben sich neue Kosten, die auch auf Gäste umgelegt werden, um auch weiter wirtschaftlich zu bleiben. Ich glaube, das hätten wir vor vielen Jahren schon gebraucht, um die Möglichkeit zu haben, auch für schwierige Zeiten Rücklagen zu bilden. Vielleicht wären wir von der Pandemie nicht so geschüttelt worden.
Wie und wo lassen sich Kosten klug einsparen?
Zum einen kann die Küchenstruktur überdacht und angepasst werden. Wenn man sich spezialisiert, hat man in meinen Augen die größte Chance in der Gastronomie Kosten zu sparen. Auf der einen Seite sollte man die Speisekarte klein halten, aber auf der anderen Seite für etwas stehen: das beste Steak, der beste Kuchen, die beste Pasta und so weiter. Man kann auch eine intelligente Speisekarte gestalten, auf welcher vielleicht zehn Produkte stehen, die dann in der Folge eines Menüs verarbeitet werden.
Woran sehen Sie persönlich derzeit die größte Herausforderung für die Branche?
Definitiv im Personalabbau, aber diese Diskussion führen wir leider nicht erst seit gestern oder vorgestern. Schon als ich mein Restaurant in Dortmund hatte, wollte dort keiner arbeiten. Wir haben händeringend Servicekräfte gesucht. Rückblickend denke ich, dass wir manchmal fast ein bisschen fahrlässig mit den Mitarbeitern umgegangen sind, sie nicht weiter gefördert haben, sie vielleicht manchmalsogar über das Limit hinausgetrieben haben. Wenn wir gutes Personal in der Branche ausbilden und vor allem behalten möchten, müssen wir Perspektiven schaffen. Ich glaube, dass es das klassische Berufsbild des Kochs in vielen Jahren – in der Art und Weise wie wir es jetzt kennen – nicht mehr geben wird. Wir müssen einen anderen Begriff schaffen, um wieder neue Leute für diese Berufung zu motivieren – in diesem Zuge sollte dringend auch das Ausbildungsmodell überdacht werden. So denke ich beispielsweise, dass es ein Bestandteil der Ausbildung werden muss, wie Convenience sinnvoll eingesetzt werden kann. Bislang vermitteln wir in der Ausbildung lediglich die Technik, aber nicht, wie wir sie sinnvoll einsetzen. Ich hätte als Koch liebend gerne schmecken gelernt. Jeder Sommelier kann das lernen, warum dann nicht auch Köche? Wir müssen junge Menschen für unsere Branche begeistern und das klappt in meinen Augen vor allem dadurch, Neugier zu wecken und Perspektiven zu bieten.
Worin sehen Sie die größte Chance für die Branche?
Wir brauchen starke Stimmen für die Branche, die auch anecken können und dürfen. Ich glaube, dass es wichtig ist, dass wir enger zusammenrücken und nicht versuchen, den anderen zu übervorteilen oder nochmals günstiger zu werden. Es ist wichtig, sich selbst zu positionieren und für sich einzustehen, wie mit einer eigenen Marke. In der Mode oder bei Autos denken wir über den Markenkern nach – warum nicht in der Küche? Mithilfe offener Denkmuster können wir als Branche kommende Krisen überstehen, ohne dabei den ganz persönlichen, eigenen Stil zu verlieren.
Das Interview führte Julia Schiffer
Mitmachen und gewinnen!
Unter allen Lesern, die bis 30. September 2022 eine E-Mail mit dem Stichwort „Aromen“ an f.john@gastgeber.bayern schicken, werden drei signierte Exemplare der gleichnamigen Bücher von Heiko Antoniewicz verlost. Die Gewinner werden schriftlich benachrichtigt. Der Rechtsweg ist ausgeschlossen.
Zur Person
Heiko Antoniewicz ist mehr als ein deutschlandweit bekannter Starkoch. Der gebürtige Dortmunder versteht sich als Perfektionist, der stets nach dem Neuen strebt und jeden Tag auf Entdeckungsreise geht. Der international gefragte Berater rund um kulinarische Innovationen, Konzepte und Produkte ist seit 2008 Geschäftsführer einer nach ihm benannten GmbH. Auch als Autor verbuchte der heute 56-Jährige große Erfolge. Für sein erstes Buch mit dem Titel „Fingerfood – die Krönung der kulinarischen Kunst“ erhielt er die Auszeichnung als „innovativstes Kochbuch der Welt“. Es folgten zahlreiche weitere Veröffentlichungen, die sich neben einzelnen Kochtechniken wie dem Sous-vide-Garen oder der Molekularküche unter anderem mit Geschmacks- und Aromenkombinationen auseinandersetzen.
Weitere Informationen sowie Anfragemöglichkeiten finden Interessierte unter www.antoniewicz.org