st der Ansatz, komplett auf importierte Waren zu verzichten, nicht etwas sehr dogmatisch? Was hat Sie dazu bewogen sich für diese Art der Küche zu entscheiden?
Wagner: Als wir damit anfingen, gab es in Deutschland kein einziges Restaurant, das ein vergleichbares Konzept hatte. Darin sah ich einen entscheidenden Wettbewerbsvorteil. Selbst wenn viele Menschen das nicht mögen sollten, gibt es wenigstens niemand anderen, der so arbeitet wie wir. Gäste, die Wert auf bedingungslose Regionalität legen, müssen also zwangsläufig zu uns kommen.
Hand aufs Herz: Hat Sie das Konzept in der Küche schon einmal an den Rand der Verzweiflung gebracht? Was war bislang die größte Herausforderung? Und was die größte Überraschung?
Schäfer: Ich finde sehr viel Spaß an dieser Aufgabenstellung. Für mich geht es vor allem darum, mich wirklich mit den Lebensmitteln und Techniken auseinander zu setzen. Die größten Herausforderungen sind dabei die Warenlogistik und die kurze Verfügbarkeit von guten Lebensmitteln wie Erdbeeren und Spargel.
Können Sie sich vorstellen eines Tages von dem Konzept abzukommen und wieder „alle Produkte“ zu verarbeiten?
Wagner: Klar. Privat esse ich ja auch Orangen im Winter und Schokolade von einer kleinen Manufaktur hier aus Berlin.
Bei Ihnen sind auch die Lieferanten „Stars“, Sie listen sie im Internet und nennen sie bei jedem Gericht auf der Menükarte. Wie finden Sie Ihre Lieferanten? Was ist Ihnen bei der Auswahl wichtig?
Wagner: Micha findet sie, weil er sich seit fünf Jahren damit auseinandersetzt. Seit mehr als anderthalb Jahren haben wir eine Person, den Max, der auf dem Land beim Produzenten arbeitet, den Kontakt hält und uns auch Lebensmittel direkt abholt.
Probieren Sie zusammen mit den Produzenten auch Neues aus? Und welches Produkt hat Sie bislang am meisten „geflasht“?
Schäfer: Wir arbeiten sehr viel und eng mit den Erzeugern zusammen. Dabei entsteht automatisch immer wieder Neues. Weil man sich mit den Leuten unterhält. Vergangenes Jahr war es zum Beispiel sehr heiß und trocken. Alle Beeren und Früchte waren klein, dafür aber sensationell süß.
Sie sind ja in Franken aufgewachsen. Ganz ehrlich: Welche bayerischen Produkte vermissen Sie in Ihrer Berlin-Brandenburgischen Küche am meisten?
Wagner: Gar nichts. Aber wieso Produkte? Lasst uns doch lieber von Lebensmitteln reden! Dieses Wort beschreibt doch viel besser, was wir in der Küche verarbeiten und den Gästen servieren. Bei uns sollen die Gäste die Schönheit des Essens erkennen. Nur wer die Schönheit von Lebensmitteln kennt, kann auch bewusst eine Entscheidung treffen.
Sie unterscheiden sich in vielerlei Hinsicht von einem klassischen Sterne-Lokal: Der unscheinbare Eingang, fehlende, vermeintliche Luxusprodukte wie Hummer und Co. auf der Speisekarte, die Purität Ihrer Speisen. Sehen Sie Ihren Erfolg auch als Indiz dafür, dass die Gesellschaft wieder mehr nach Authentizität und Identität sucht?
Wagner: Jede Generationen hat bestimmte Werte. Hier in Berlin trifft es den Nagel auf den Kopf, weil wir den Menschen neue Werte vermitteln, die sie vergebens in der Gastronomie gesucht haben. Aber es ändert sich. Gastronomen treffen bewusste Entscheidungen. Ob es die Milch beim Milchkaffee ist, oder welches Fleisch sie verarbeiten oder eben nicht.
Findet in der gehobenen Gastronomie ein Umdenken statt? Die Abkehr vom Chichi hin zur regionalen Küche?
Schäfer: Nur wenige Kollegen kaufen wirklich regional und hochwertig ein. Tatsächlich dürfte es eine außergewöhnliche Situation sein, dass einige Kantinen und Schulküchen der Stadt sich schneller entwickeln und anfangen, bewusster einzukaufen, als das zum Beispiel in der gehobenen Gastronomie und vor allem der Hotellerie der Fall ist.
Den Deutschen sind gutes Essen und bewusste Ernährung im Vergleich zu anderen europäischen Ländern tendenziell weniger wert. Worin liegt trotz der geografischen Nähe zu den Franzosen oder Italienern unser Mangel an Esskultur begründet? Leisten Sie mit Ihrem Kochstiel einen Beitrag zum Umdenken?
Schäfer: So etwas würde ich nicht behaupten. Ich würde sagen, dass die Zeiten, in denen man sich hierzulande über ein Auto und ein Haus definiert, langsam vorbei sind. Es entsteht also mehr Raum für Esskultur.
In den meisten Dienstleistungsberufen sind Wochenend- oder Feiertagszuschläge Standard, in der Gastronomie ist dies eindeutig die Ausnahme. Ihr Menüpreis variiert je nach Wochentag. Akzeptieren das Ihre Gäste oder führt es zu Diskussionen?
Wagner: Ja, das akzeptieren die Gäste. Und nein, es führte noch nie zu Diskussionen. Wer billiger Essen will, kommt eben am Dienstag oder Mittwoch. Wunderbar. Dann sind wir auch an diesen Tagen ausgebucht.
Am Wochenende ist der Laden doch immer voll, zumindest, wenn man gute Arbeit abliefert. Oder? Welchen Tipp würden Sie Ihren bayerischen Kollegen mit auf den Weg geben?
Wagner: Was ich jedem Gastronomen sage: mutig sein. Geht nicht, gibt es nicht. Wieso kostet das Bier am Sonntag im Biergarten nicht einfach etwas mehr? Damit stellt man sicher, dass man auch unter der Woche den Biergarten offen hält. Die „guten“ Angestellten muss man auch für fünf Tage beschäftigen, oder? Das Wichtigste ist, immer offen zu sein. Und alles, auch die vielleicht schwierigen Gedanken zu kommunizieren. Gäste verstehen mehr als man denkt. Wir haben Vertrauen in unsere Gäste und diese belohnen das.
Sie sind nach eigenen Angaben das politischste Restaurant Deutschlands. Wenn Sie drei branchenpolitische Wünsche frei hätten, was würden Sie sich für das Gastgewerbe wünschen?
Wagner: Wir müssen schon im Kindergarten gut essen oder später in der Schule und auch in der Universität. Wer sich das nicht leisten kann, muss Hilfe von der Gesellschaft bekommen. Wenn Kinder schon früh erfahren, wie schön Lebensmittel und Essen sein können, dann wissen Sie vielleicht auch später, was sie der Gesellschaft alles leisten können. Selbstwirksame Menschen nutzen der Gesellschaft mehr, als welche, die Entscheidungen aus Gewohnheit treffen, damit der Gemeinschaft aber eigentlich schaden. Die Gesellschaft muss mündige Bürger hervorbringen. Und ein mündiger Gast, der unsere gute Arbeit zu schätzen weiß und deswegen auch immer wieder kommt, wäre der wichtigste Auftrag. Deshalb fordern wir, dass in jedem Schulfach über Essen geredet wird. Essen betrifft alle unsere Lebensbereiche. Weiterhin würde ich mir wünschen, dass sich der Beruf Koch nicht nur dem Kochen widmet, sondern auch landwirtschaftliche Themen miteinbezieht. Genauso wie Köche und Kellner gelegentlich ihre Arbeitsplätze in Küche und Gastraum wechseln sollten, muss ein Koch auch auf dem Feld oder im Stall zu Hause sein. Wenn ein Koch nicht weiß, woher das Lebensmittel kommt, wie soll er dann gut kochen? Deshalb fordern wir, dass ein Teil der Ausbildung auf einem kleinbäuerlichen Hof stattfindet. Der Auszubildende lernt nicht nur Landwirtschaft kennen, sondern erkennt auch den Wert der Arbeit des Bauern. Hier müssen Gastronomie und Landwirtschaftsverband am gleichen Strang ziehen.
Schäfer: Transparenz ist sehr wichtig. Ich finde, dass jeder kommunizieren sollte, wo er seine Ware herbekommt. Ohne Lücken. Nicht nur auf die Karte schreiben, dass das Wildschwein vom lokalen Jäger kommt, sondern auch von welchem Großhändler man das Obst bekommt. Das finde ich wichtig, um den Gästen die Möglichkeit zu geben, bewusste Entscheidungen zu treffen.
Die Fragen stellte Frank-Ulrich John
ZUR PERSON
Billy Wagner ist vielfach ausgezeichneter Sommelier des Jahres und Wirt im Speiselokal „Nobelhart & Schmutzig“ in Berlin. Nach Stationen in Nürnberg, dem „Essigbrätlein“, Dieter Kaufmanns „Zur Traube“ in Grevenbroich sowie Claudia Sterns „Vintage“ in Köln und dem „Monkey‘s Plaza“ in Düsseldorf kam er 2008 nach Berlin, um die Stelle als Gastgeber und Sommelier im „Rutz“ auszufüllen. Seine Leidenschaft beschränkt sich jedoch nicht nur auf Wein aus Trauben und anderen Früchten, sondern umfasst auch handwerklich gebrautes Bier, hochwertige Single Origin Kaffees und Tees, wie auch den Genuss von klassischen Cocktails und handwerklich gut gekochtem Essen. Mit dem Speiselokal „Nobelhart & Schmutzig“ möchte er seinen Gästen die Produktvielfalt vermitteln, die es in Berlin und Umgebung gibt. Es ist ihm ein Anliegen, die Produzenten in Berlin und im Berliner Umland zu unterstützen und so die Produkte aus ihrer Anonymität zu befreien.
Micha Schäfer entdeckte nach kurzem Studium seine Leidenschaft für die Küche. Begonnen hat er, zur Finanzierung seiner Ausbildung, als Spüler, bis er das Studium an den Nagel hing und auf die andere – für ihn richtige Seite – wechselte. Er wurde Koch. Durch glückliche Fügung bekam er eine Stelle in der Villa Merton, der damals einzigen Adresse Deutschlands, die eine restriktiv regionale Küche zelebrierte. Schäfer war stets miteingebunden in die kreativen Prozesse des Küchenchefs Matthias Schmidt, was sein Profil über die Jahre schärfte. Seit Anfang 2015 ist er verantwortlich für die Küche in Billy Wagners Speiselokal „Nobelhart & Schmutzig“ in Kreuzberg und verhalf dem Lokal nur neun Monate nach dessen Eröffnung zum ersten Michelin-Stern und 16 Punkten im Gault Millau.