err Landesbischof, früher gab es traditionell zwei Institutionen in jedem Dorf: Die Kirche und das Wirtshaus. Haben Pfarrer und Wirte ähnliche beziehungsweise ergänzende Funktionen innerhalb einer Dorfgemeinschaft?
Auf alle Fälle: Beide sind für Kommunikationsmöglichkeiten innerhalb des Dorfes mit zuständig. Beide sind Ansprechpartner für Menschen, die ein Gespräch suchen. Sie sind also beide Persönlichkeiten, denen sich Menschen anvertrauen können und haben daher eine wichtige Funktion innerhalb einer Dorfgemeinschaft. Pfarrer haben aber sicher noch eine eigene Rolle. Sie sind in besonderer Weise Ansprechpartner für die existentiellen Seiten des Lebens. Deswegen heißen sie ja auch Seelsorger.
Waren früher beide Häuser gut besucht, ist dies heute leider nicht mehr selbstverständlich. Sehen Sie hier Parallelen?
Im Zeitalter der Individualisierung haben es früher zentrale Orte der Gemeinschaft zunehmend schwerer. Das Wirtshaussterben ist ein großer Verlust für die dörfliche Gemeinschaft. Hier geht in vielen kleineren Orten eine wichtige Kommunikationsmöglichkeit für die Menschen verloren. Unsere Kirchen in Bayern werden zwar zu den Gottesdiensten inzwischen weniger gut besucht, dafür haben sie in den letzten Jahren eine hohe Bedeutung unter der Woche bekommen. Inzwischen besuchen unter der Woche mehr Menschen unsere geöffneten Kirchen als am Sonntag. Die Menschen sind auf der Suche nach Ruhe, nach Orten, an denen sie zu sich kommen können. Deshalb haben wir in Bayern in den letzten Jahren auch fast keine Kirchen entwidmet, das heißt: geschlossen oder gar verkauft.
Noch nie stand das Thema Nachhaltigkeit derart im Fokus wie heute. Dabei thematisieren Sie als Kirche die wesentlichen Punkte schon seit Jahrzehnten. Und mit 21 Millionen Protestanten allein in Deutschland haben Sie weit mehr „Follower“ als Rezo und Greta Thunberg zusammen. Derartige Aufmerksamkeit, wie sie Thunberg und Rezo derzeit erleben, haben Sie jedoch bislang nicht erfahren. Wieso nicht?
Greta Thunberg und Rezo sind Personen, die sich bewusst auf ein Thema konzentrieren– das kommt in der medialen Welt natürlich gut rüber. Immer wieder höre ich deswegen die Forderung, die Kirche solle sich auf ihr Kernthema konzentrieren. Unser Kernthema ist aber die Hoffnung für die Welt. Frieden, Gerechtigkeit, eine lebenswerte Erde für alle Geschöpfe Gottes – das sind Themen, für die wir aus unserem Glauben heraus eintreten. Gott wird diese Welt nicht allein lassen. Deswegen gehen wir mit Zuversicht in die Zukunft. Wenn ich als Ratsvorsitzender eines dieser Themen pointiere, zum Beispiel durch den Besuch bei Seenotrettern im Mittelmeer, dann wird das durchaus wahrgenommen. Das habe ich übrigens auch vor den UN-Klimakonferenzen gemerkt. Da haben wir ja sehr klar zum Ausdruck gebracht, dass es eine Frage der Gerechtigkeit ist, den Klimawandel konsequent zu begrenzen.
Ausgesprochen viele junge Menschen haben bei der Europawahl „grün“ gewählt. Die Zahl der Veganer sowie Vegetarier wächst stetig und auch Fernreisen werden zunehmend kritisch gesehen. Wie sehen Sie diese Entwicklung und warum erleben wir sie gerade jetzt?
Die jungen Menschen nehmen sehr deutlich wahr, dass es ihre eigene Zukunft ist, die gerade auf dem Spiel steht. Sie suchen nach einem Lebensstil, der zukunftsfähig ist – und der zugleich ihr Engagement und ihre Kritik glaubwürdig macht. Ich bin beeindruckt von der Konsequenz dieser jungen Menschen! Und ich freue mich darüber, dass nun Themen ins Zentrum rücken, die lange Zeit nicht die Aufmerksamkeit hatten, die sie verdienen.
Wäre der Umweltschutz – also die Bewahrung der Schöpfung Gottes – nicht eine Gemeinsamkeit, der die Kirche und die nächste Generation wieder näher zusammenbringen könnte?
Auf jeden Fall – und das geschieht auch gerade: Der Landesjugendkonvent, sozusagen das „Parlament“ unserer kirchlichen Jugendarbeit, stand im Mai dieses Jahres unter dem Thema „Bewahrung der Schöpfung“. Zusammen mit unserem landeskirchlichen Beauftragten für Umwelt- und Klimaverantwortung und anderen Partnern haben die Jugendlichen und jungen Erwachsenen drei Tage Perspektiven entwickelt, wie sie ihre Ideen von einer lebenswerten Zukunft in ihren Kirchengemeinden und Jugendgruppen umsetzen können. Sie haben meine volle Unterstützung.
Der Evangelische Kirchentag gilt als eine der umweltfreundlichsten Großveranstaltungen Deutschlands. Welche nachhaltigen, beim Kirchentag ergriffenen Maßnahmen lassen sich auf Wirtshäuser oder Hotels übertragen?
Der Kirchentag ist ein beeindruckendes Beispiel dafür, dass auch eine Massenveranstaltung mit mehr als 100.000 Personen ganz ohne Einweg-Geschirr auskommen kann. Da können sich viele Caterer noch etwas abschauen! Außerdem wird beim Kirchentag ausschließlich fair gehandelter Kaffee ausgeschenkt – da kostet die Tasse vielleicht 10 oder 20 Cent mehr, aber für die Produzentinnen und Produzenten ergibt sich durch den fairen Handel eine völlig veränderte Lebensperspektive: Sie haben Planungssicherheit, Zugang zu Krankenversicherung und anderen Sozialleistungen – und können mit den natürlichen Ressourcen verantwortlicher umgehen. Und schließlich zeigt das Gläserne Restaurant, dass vegetarische Küche begeistert angenommen wird, wenn sie gut gemacht ist. Das Restaurant war wieder jeden Tag völlig überlaufen.
Was heute als „Nachhaltiger Tourismus“ gilt, hat die Religion bereits vor Tausenden von Jahren in Reinform hervorgebracht: das Pilgern. Heute erfährt diese Art des Reisens neue Beliebtheit – auch unter nicht Gläubigen. Was erhoffen sich die Menschen vom Pilgern, wieso nehmen Pilgerreisen zu?
Ich denke, es spielen drei Faktoren dabei eine wichtige Rolle. Zum einen zeigen uns Untersuchungen, wie wichtig Stille für die Menschen heute ist. Der weltweite Geräuschpegel steigt. Schon sprechen Experten vom Lärm als dem neuen Passivrauchen und warnen vor einer neuen Epidemie der Lärmkrankheit. Und dazu gehört natürlich auch die Sehnsucht nach Entschleunigung – auszusteigen aus dem Immererreichbarsein. Pilgern bietet dazu eine gute Möglichkeit. Zum zweiten steht die Natur für die Menschen heute in ihrer Werteskala ganz oben. Und die kann man eben beim Pilgern in intensiver Weise erleben. Und zum dritten sind die Menschen heute sehr wohl offen für Spiritualität – auch wenn sie nicht mehr in der gleichen Zahl in unsere Gottesdienste kommen. Die Frage nach dem Sinn des Lebens und was mein Leben wirklich trägt, ist heute genauso aktuell wie früher. Alle drei Faktoren tragen meines Erachtens dazu bei, dass Pilgern heute für die Menschen eine so große Bedeutung hat – unabhängig davon, obsie zu einer Kirche gehören oder nicht.
Ist diese Art der Auszeit der neue, „bessere“ Wellness-Urlaub?
Inzwischen wird im Tourismus ja vom Selfness-Urlaub gesprochen; denn es geht eben nicht mehr nur um den Körper, der Erholung braucht, sondern der ganze Mensch sehnt sich danach. Und beim Pilgern finden Menschen – trotz aller körperlichen Anstrengung – genau das.
Den Jakobsweg kennt jeder. Gibt es im Kleinen Pilgerangebote von der evangelischen Kirche in Bayern und inwieweit wird hierbei das Gastgewerbe eingebunden?
Viele unserer Kirchengemeinden bieten inzwischen solche kleinen Formate des Pilgerns an. Beispielsweise erfreut sich das sogenannte Samstags- oder Sonntagspilgern großer Beliebtheit. An einem Tag ist man gemeinsam unterwegs und natürlich kehrt man dann auch ein. Wichtig sind auch spezielle Zielgruppenangebote wie Pilgern für Trauernde oder für Männer, die rund drei bis fünf Tage umfassen. Und selbstverständlich spielt dabei die Frage, wo man übernachtet und wo man ein kostengünstiges Essen bekommt, eine wichtige Rolle. Leider ist das gerade in den ländlichen Regionen, durch die ja viele Pilgerwege führen, eine schwierige Sache; denn gerade dort fehlen oft Gaststätten.
Vor knapp drei Jahren startete das Tourismuskonzept „Stade Zeiten“ der Bayern Tourismus Marketing. Es bietet Gästen Angebote der Ruhe, Stille und Entschleunigung. Wie beteiligt sich die Evangelische Kirche an dem Projekt?
Wir sind ja als Evangelische Kirche in Bayern seit 2015 Gesellschafter bei der Bayern Tourismus Marketing GmbH und von daher in sehr enger Kooperation mit dem Tourismus. Dazu gehört auch unsere Beteiligung an der Marke „Stade Zeiten“. Viele unserer Angebote wie spirituelle Wanderungen, Meditationen oder auch unsere offenen Kirchen eröffnen solche Räume der Stille und Entschleunigung. Seit diesem Jahr bieten wir auch mit unserer neuen Marke „Stille erleben“ in neun evangelischen Gästehäusern explizit Möglichkeiten an, stille Tage zu verbringen – also ein buchbares Angebot.
Wie können Wirtinnen und Wirte, die nahezu 365 Tage im Jahr rund um die Uhr für Ihre Gäste da sind, selbst einmal Kraft tanken?
Grundsätzlich muss das natürlich jeder für sich selbst herausfinden – die Menschen sind ja sehr verschieden. Aber vielleicht ist für den einen oder die andere auch eine kleine Pilgertour vor Ort so eine Möglichkeit zum Abschalten und Kräfte sammeln. Oder man setzt sich einfach mal zwischendrin für eine Weile in die Dorfkirche und lässt die Mauern auf sich wirken, in die so viele Segensgeschichten hineingeschrieben sind.
Und Hand aufs Herz: Woraus schöpfen Sie persönlich neue Energie?
Ich beginne den Tag mit den Bibelversen, die in den Herrnhuter Losungen jedem Tag zugeordnet sind. Als Landesbischof darf ich ja häufig große Festgottesdienste mit einer vollen Kirche und wunderbarer Musik feiern. Das gibt mir viel Kraft. Ich weiß, dass die Kirchen nicht immer so voll sind. Aber ich nehme diese kraftvollen Gottesdiensterfahrungen als das Geschenk, das meine Kirche ihrem Bischof macht.
ZUR PERSON
Dr. Heinrich Bedford-Strohm ist seit November 2014 Ratsvorsitzender der Evangelischen Kirche in Deutschland und seit November 2011 Landesbischof der Evangelisch- Lutherischen Kirche in Bayern. Zuvor war er Inhaber des Lehrstuhls für Systematische Theologie und Theologische Gegenwartsfragen an der Universität Bamberg. Geboren am 30. März 1960 in Memmingen, studierte Bedford-Strohm Theologie in Erlangen, Heidelberg und Berkeley (USA) und hat 1992 in Heidelberg promoviert. In den folgenden Jahren war er sowohl wissenschaftlich als auch pastoral tätig, unter anderem als Pfarrer an der Coburger Moritzkirche. 2004 erhielt Bedford-Strohm den Lehrstuhl in Bamberg. Er ist mit der Psychotherapeutin Deborah Bedford-Strohm verheiratet, die aus den USA stammt. Das Paar hat drei Söhne.