Frau Scharf, als Bayerische Staatsministerin für Familie, Arbeit und Soziales unterstützen Sie aktiv eine langjährige Forderung des DEHOGA Bayern für eine Reform des deutschen Arbeitszeitgesetzes. Konkret geht es darum, die aktuell starre Tageshöchstarbeitszeit durch eine Wochenarbeitszeit zu ersetzen. Warum ist dies aus Ihrer Sicht wichtig?
Weil wir das Arbeitszeitrecht aus den 1990er Jahren endlich ins 21. Jahrhundert holen müssen. Eine starre Tageshöchstarbeitszeit passt nicht mehr zur Lebenswirklichkeit vieler Menschen. Sie wünschen sich eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Könnten sie ihre Arbeitszeit freier einteilen, wären sie flexibler in ihrem Alltag. Das würde zum Beispiel Berufe in Gastronomie und Hotellerie für manche Fachkräfte attraktiver machen. Mehr Freiheit im Workflow lockt dringend benötigtes Fachpersonal an. Gerade nach Corona, wo seit Langem kaum Servicekräfte am Arbeitsmarkt zu finden sind, brauchen wir einen neuen Schub. Viele Betriebe können nicht so öffnen wie gewünscht, manche haben schon ganz geschlossen. Wir müssen aufpassen, dass uns binnen weniger Monate nicht verlorengeht, was die Menschen ein Leben lang aufgebaut haben. Generationenbetriebe, die seit Jahrhunderten unsere Ortsbilder prägen, sowie Familienunternehmen, die unser Land lebenswert machen, müssen erhalten bleiben. Niemand will trostlose Ortszentren mit geschlossenen Restaurants und leeren Hotels. Es geht ums große Ganze: Wie attraktiv ist unsere Heimat – heute und morgen? Deshalb sollten wir offen über die Aufhebung der täglichen Höchstarbeitszeit von zehn Stunden diskutieren. Dabei gibt es aber ein Gut, das absolut unverhandelbar ist: das hohe Niveau des Arbeits- und Gesundheitsschutzes, das wir in Bayern und Deutschland haben.
Welche Vorteile würden flexiblere Arbeitszeiten für Mitarbeitende und Arbeitgeber mit sich bringen?
So wären zum Beispiel vier längere Arbeitstage mit über 10 Stunden möglich, um zusätzliche freie Tage in der Woche zu ermöglichen. Es wären auch Wochenarbeitszeiten von 70 Stunden möglich, wenn Beschäftigte die Zeiten binnen sechs Monaten ausgleichen. Sie sollen nicht mehr, sondern flexibler arbeiten. Es geht nicht um schlechtere, sondern um bessere, weil flexiblere Arbeitsbedingungen. Genau das ist ja der Wunsch vieler Angestellter. Eine Bedienung will auf einer Hochzeit bis zum Schluss bleiben – Trinkgeld geben Gäste halt erst beim ‚Zampacken‘. Ein guter Dachdecker will sein Werk vollenden, ehe Sturm aufzieht. Ein Kurier will nicht auf den letzten Metern eine Zwangspause machen. Mit mehr Flexibilität müssten Arbeitgeber nicht ständig mit doppeltem Personaleinsatz planen. Natürlich lässt sich nicht jede Tätigkeit risikofrei über zehn Stunden ausüben. Deswegen braucht es Gefährdungsbeurteilungen nach dem Arbeitsschutzgesetz. Sicherheit und Schutz der Gesundheit der Beschäftigten gehen immer vor – in allen Branchen. Unser Arbeiten soll nicht gefährlicher oder belastender werden, sondern besser. Die neue Flexibilität soll zuallererst dem Menschen dienen!
Wäre es nicht nur gerecht gegenüber allen Mitarbeitenden insbesondere in den Menschzu- Mensch-Berufen, die kein Homeoffice machen können, die Arbeitszeit auch an deren Lebensbedingungen durch eine freie wöchentliche Verteilung anpassbar zu machen?
Das ist aus meiner Sicht ein guter Punkt. Gerade in Berufen, in denen kein Home-Office möglich ist, sollten die Menschen ihre Arbeitszeiten möglichst frei gestalten können – für eine bessere Work-Life-Balance. Wer sich zum Beispiel um Kinder oder pflegebedürftige Angehörige kümmert und regelmäßig zur Arbeit pendelt, hat nicht nur unseren Applaus verdient, sondern vor allem attraktive Arbeitsbedingungen.
Wie sehen Sie die Chancen in der Umsetzung Ihres Vorstoßes?
Politik ist das Bohren dicker Bretter. Schon 2019 hat Bayern eine Bundesratsinitiative gestartet. Allerdings ziehen die anderen Länder noch nicht mit. Wir sind beim Arbeitszeitrecht auf verschiedenen politischen Ebenen tätig, die ineinanderwirken. Die höchste Ebene – die Europäische Union – gibt grundsätzlich grünes Licht für unser Vorhaben. Die europäische Arbeitszeitrichtlinie 2003/88/EG lässt eine tägliche Höchstarbeitszeit von mehr als zehn Stunden zu, solange sie im Rahmen einer Wochenarbeitszeit von durchschnittlich 48 Stunden bleibt. Dieses Potenzial wollen wir nutzen. Zuständig ist Berlin, weil das Arbeitszeitrecht dem Bund unterliegt. Ich habe schon mehrmals dem deutschen Arbeitsminister Hubertus Heil geschrieben: mit der klaren Forderung, die Flexibilisierung der Arbeitszeit endlich in Angriff zu nehmen. Für das erste Quartal 2023 ist ein Referentenentwurf zur Novellierung des Arbeitszeitgesetzes vom Bund angekündigt. Ich bin schon sehr gespannt darauf! Ich werde mich weiter für ein modernes Arbeitszeitgesetz einsetzen.
Zur Person
Nach ihrem Abitur und einer Ausbildung zur Bankkauffrau studierte Ulrike Scharf Betriebswirtschaftslehre in München und schloss dieses mit einem Diplom (FH) ab. Von 1992 bis 2014 war sie selbstständig im familieneigenen Unternehmen tätig. Seit 1995 ist Scharf Mitglied der CSU, in den Jahren 2006 bis 2008 sowie seit 2013 ist sie Mitglied des Bayerischen Landtags. Seit 2011 ist die Mutter eines erwachsenen Sohnes Mitglied im CSU-Parteivorstand. In die erste landespolitische Reihe trat sie erstmals als Bayerische Staatsministerin für Umwelt und Verbraucherschutz von 2014 bis 2018. Seit 23. Februar 2022 führt sie das Bayerische Staatsministerium für Familie, Arbeit und Soziales.