err Professor Nida-Rümelin, in den 1950er-Jahren legten 5 bis 6 Prozent der Bevölkerung das Abitur ab, heute sind es rund 50 Prozent. Wie kam es zu dieser Entwicklung und wann hat sich das System stabilisiert?
Ja, in der Tat, Deutschland hatte eine niedrige Abiturientenquote mit anspruchsvollen Gymnasien insbesondere den humanistischen. Ein Studium war in den Nachkriegsjahrzehnten fast schon eine Garantie für einen herausgehobene berufliche Stellung. 1964 veröffentlichte Georg Picht seine Thesen zur deutschen Bildungskatastrophe, wonach es dringend erforderlich sei, den Zugang zum Studium zu erleichtern und auszuweiten. Dem folgte eine etwa zehn Jahre währende Bildungsexpansion, die in der Tat vielen den Aufstieg durch Bildung ermöglichten. 1977 beschlossen die Kultusminister auch aufgrund der Wirtschaftskrise und der Finanznot des Staates den weiteren Ausbau der Hochschulbildung zu stoppen und den sich abzeichnenden Studentenberg zu untertunneln, in der Erwartung, dass sich die Zahlen von allein wieder senken würden. An den überfüllten Universitäten verschlechterten sich daraufhin die Studienbedingungen und für viele platzte der Traum vom Aufstieg durch Studium. In den 2000er-Jahren kam es auch durch die Globalisierung zu einem Anpassungsdruck an internationale Standards. Die Bologna Reform versucht, die ganze Vielfalt europäischer Bildungssysteme dem angelsächsischen Muster anzugleichen und die hohen Akademisierungsquoten auch in Kontinentaleuropa zu erreichen. Dabei wurde lange Zeit übersehen, dass mit der starken Rolle der beruflichen Bildung insbesondere in Deutschland, Österreich und der Schweiz eine attraktive Alternative zum Weg in den Beruf zur Verfügung steht, während vergleichbare Angebote in den USA oder England nicht existieren. Zwischen 2006 und 2012 schossen die Zahlen der Studierenden um fast 10 Prozent jährlich in die Höhe. Wenn dieser Trend noch weitere Jahre angehalten hätte, wäre die berufliche Bildung auch in Deutschland nur noch ein Restposten und könnte die deutsche Wirtschaft nicht mehr mit hochqualifizierten Fachkräften versorgen. Tatsächlich ist dieser Trend seit Mitte der 2010er-Jahre weitgehend gestoppt. Das System hat sich stabilisiert, das beständige Werben mittelständischer Unternehmen, der Industrie- und Handwerkskammern, aber wohl auch meiner eigenen Person in Deutschland für berufliche Bildung hat gewirkt. Der Meisterbrief wurde wieder aufgewertet. Aber es bleibt noch viel zu tun.
Vom Jahrhundertdenker Wilhelm von Humboldt stammt der Satz „Auch Griechisch gelernt zu haben, könnte dem Tischler ebenso wenig unnütz seyn, als Tische zu machen dem Gelehrten.“ Was lehrt uns dieser Satz und hat er heute noch seine Berechtigung?
Es geht hier nicht speziell um Altgriechisch oder Tischlerei, sondern um einen umfassenden Bildungsbegriff, der das Handwerkliche gleichwertig miteinbezieht. Eine richtig verstandene humanistische Bildungsidee nimmt den ganzen Menschen in den Blick, mit all seinen Fähigkeiten: den kognitiven, sozialen, handwerklich-technischen und künstlerisch- gestalterischen.
In welchem Zusammenhang stehen die Berufsbildung und die Jugendarbeitslosigkeit?
Dieser Zusammenhang ist völlig eindeutig: Länder mit einer starken beruflichen Bildung haben die niedrigste Jugendarbeitslosigkeit weltweit, dazu zählen besonders Deutschland, Österreich und die Schweiz. Auch wirtschaftliche erfolgreiche Länder wie Großbritannien oder Schweden haben eine sehr viel höhere Jugendarbeitslosigkeit, weil sie ganz auf akademische Bildung gesetzt haben, ähnliches gilt für Frankreich.
Wie entscheidend ist die duale Berufsausbildung für die Wertebildung, das Vertrauen, und den Umgang mit Materialien für junge Menschen?
Der Vorteil der dualen Form der beruflichen Bildung ist, dass die praktische Ausbildung im Betrieb und die theoretische Bildung in den Berufsschulen miteinander verkoppelt ist. Dadurch lernen junge Menschen Verantwortung für Abläufe und Ergebnisse in ihrem zukünftigen Beruf, erhalten aber zugleich das theoretische Rüstzeug, was für ihren weiteren Weg erforderlich ist. Der Umgang mit Materialien, Stoffen, Formen und Farben, mit Menschen ist für die Persönlichkeitsentwicklung ebenso wichtig, wie Gedichtinterpretationen und Stochastik.
Was muss sich aus Ihrer Sicht verändern, um eine Gleichstellung von beruflicher Ausbildung und akademischer Ausbildung in den Augen der Gesellschaft zu erreichen?
Wenn man in die Einkommensstatistik schaut, ist diese Gleichstellung vielfach schon erreicht. Wer einen Meisterbrief erworben hat und sich selbstständig macht, hat sogar meist eine höhere Einkommenserwartung als Akademiker im öffentlichen Dienst. In manchen großstädtischen Milieus wird die berufliche Bildung aber immer noch abgewertet. Insbesondere im öffentlichen Dienst müssen die Gehaltsstrukturen die Gleichwertigkeit in akademischer und beruflicher Bildung widerspiegeln. Das ist aktuell nicht der Fall. In den allgemeinbildenden Schulen sollte die Berufsorientierung alle Bereiche gleichermaßen umfassen. Das Wichtigste ist aber eine kulturelle Veränderung, die den ganzen Menschen mit all seinen Fähigkeiten gleichwertig in den Blick nimmt.
Spricht man mit Jugendlichen der vielzitierten „Generation Z“, hört man immer mehr „Es kommt nicht darauf an, was ich mit meiner Arbeit verdiene, sondern dass meine Aufgabe sinnhaft ist und mich zufrieden macht“. Dennoch studieren mehr junge Menschen denn je? Sehen Sie hier einen Widerspruch oder einen inhaltlichen Zusammenhang?
Es ist eine gute Entwicklung, dass mehr Wert auf ein erfülltes Leben gelegt wird. Eltern, Schulen und die Politik sollte darauf hinwirken, dass der Erwartungsdruck in Richtung Abitur und Studium zurückgenommen und den Kindern und Jugendlichen die Botschaft vermittelt wird: „Entfalte deine eigenen Fähigkeiten und Interessen, damit du auf deinem Bildungsweg zu dir selbst findest.“ Die einen finden ihre Erfüllung in höherer Mathematik oder Archäologie, die anderen in sozialen Berufen, dem Umgang mit Menschen im Dienstleistungsgewerbe, wieder andere in der Softwareentwicklung, dem Handwerk, der Kunst.
ZUR PERSON
Julian Nida-Rümelin, Jahrgang 1954, wuchs in München in einer Künstlerfamilie auf. Er studierte Philosophie, Physik, Mathematik und Politikwissenschaft. Er ist seit 2004 Professor für Philosophie und politische Theorie an der Ludwig-Maximilians-Universität München, er war zuvor Professor an den Universitäten Göttingen (1993-2003) und Tübingen (1991-1993) und ist seit 2002 Honorarprofessor an der Humboldt Universität zu Berlin. Als Gastprofessor unterrichtete er unter anderem am California Institute of Technology, der Universität St. Gallen und an Universitäten Italiens (Cagliari, Triest, Rom). Er war Kulturstaatsminister im ersten Kabinett Schröder, Kulturreferent der LHS München und Präsident der Gesellschaft für analytische Philosophie sowie der Deutschen Gesellschaft für Philosophie. Seine wissenschaftlichen Schwerpunkte liegen in der Rationalitätstheorie, der politischen Philosophie und der Ethik. Er ist Autor zahlreicher Bücher und Aufsätze, Mitglied der Europäischen Akademie der Wissenschaften sowie der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. 2014 verlieh ihm die Universität Triest die Ehrendoktorwürde, 2016 die Bayerische Staatsregierung die Europa-Medaille. Seit 2018 ist er Direktoriumsmitglied des neu gegründeten Bayerischen Forschungszentrums für digitale Transformation. Seit April 2020 ist er zudem Mitglied des Deutschen Ethikrats.
Buchtipp
Prof. Dr. Julian Nida-Rümelin hat zum Thema Bildungsexpansion und den damit verbundenen Auswirkungen das Buch „Der Akademisierungswahn. Zur Krise akademischer und beruflicher Bildung“ (ISBN-10: 389 684 1610/ ISBN-13: 978-389 684 1612) veröffentlicht und hält Vorträge in Unternehmen und Verbänden. Exemplare der gleichnamigen Bücher von Pierre Nierhaus verlost. Die Gewinner werden schriftlich benachrichtigt. Der Rechtsweg ist ausgeschlossen.